Laut repräsentativen Umfragen will eine Mehrheit der Bevölkerung Fachgeschäfte für Cannabis. Ein erster Zwischenschritt zu diesen könnten wissenschaftliche Modellprojekte zur Abgabe darstellen. Daher unterstützen und zeichnen wir diesen offenen Brief an den deutschen Bundestag.
Hier nachfolgend der Brief:
Appell für evidenzbasierte Cannabispolitik: Ermöglichung wissenschaftlich begleiteter Forschungsprojekte zur kontrollierten Abgabe von Cannabis
Sehr geehrte Damen und Herren,wir wenden uns heute an Sie als gewählte Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Bundestages sowie als Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der künftigen Bundesregierung.
Zahlreiche Betroffene und mangelnde DatenbasisTrotz der langjährigen Illegalität von Cannabis gibt es erste Erhebungen, die einen Einblick in die Verbreitung des Konsums geben. Laut aktuellen Studien konsumierten 10% der Erwachsenen (und somit jeder zehnte) in den letzten zwölf Monaten Cannabis.1 Auch in der EU ist Cannabis die nach wie vor am häufigsten konsumierte (in weiten Teilen noch illegale) Substanz.2 Dennoch fehlt es weiterhin an umfassenden und belastbaren Daten zum Cannabiskonsum und dessen gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Auswirkungen.
Diese Wissenslücke erschwert eine fundierte Bewertung der Gesamtsituation und ihrer Folgen. Sie führt zu emotionalen Debatten statt sachlicher Entscheidungsfindung. Das Konsumcannabisgesetz (KCanG) hat den Konsum von Cannabis zu Genusszwecken grundsätzlich legalisiert, weist in seiner Ausgestaltung jedoch erhebliche praktische Herausforderungen auf. Während der Konsum legal ist, bleibt der Erwerb außerhalb von Anbauvereinigungen weiterhin untersagt. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verdeutlicht die Komplexität der Thematik und unterstreicht die Notwendigkeit und Chance einer fundierten, datenbasierten Herangehensweise für zukünftige politische Entscheidungen im Bereich der Cannabisregulierung.
Evidenzbasierte Diskussion statt IdeologieDie Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit als Grundlage für Fortschritt und Innovation wird im Sondierungspapier der CDU, CSU und SPD klar hervorgehoben. Dort wird betont, dass die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Wissenschaft nicht nur geschützt werden muss, sondern auch eine zentrale Voraussetzung für unabhängige Forschung und die Gewinnung neuer Erkenntnisse darstellt – frei von politischer Ideologie.
Angesichts der anstehenden Weichenstellungen für die Drogenpolitik der neuen Legislaturperiode bitten wir Sie, regional und zeitlich begrenzte, wissenschaftlich begleitete Cannabis-Forschungsprojekte weiterhin zu ermöglichen. Diese Vorhaben bieten die historische Gelegenheit, eine belastbare Datenbasis für faktenbasierte Diskussionen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu schaffen – zum Wohle der Gesundheit und Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, zur Förderung unserer Wirtschaft und zur Wahrung unserer Innovationskraft.
Solche ergebnisoffenen Studien erlauben es, die viel diskutierten Themenbereiche rund um Konsumcannabis im Kleinen zu überprüfen und datengestützte Modelle zu entwickeln, die zeigen, wie Sicherheit, staatliche Kontrolle und wirtschaftliches Wachstum vereinbar sind. Ziel sollte es sein, die ideologisierte Debatte durch Fakten zu ersetzen, um das aufgeladene Thema zu versachlichen. Durch wissenschaftlich begleitete Forschungsprojekte sollen keine Konsumanreize geschaffen, sondern der bereits bestehende Konsum erforscht und sicherer gemacht werden.
Kontrollierte Forschung und EvaluationWie sehen solche Konsumcannabis-Forschungsvorhaben aus? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bereits vielfältige, regional zugeschnittene Forschungsansätze entwickelt. Bei der Konzeption der Studien wurden internationale Forschungsansätze und Erkenntnisse aus laufenden Untersuchungen im Ausland, wie beispielsweise aus der Schweiz, berücksichtigt und in die Studiendesigns integriert.3
Indem unterschiedliche Abgabemodelle kontrolliert erprobt werden (etwa die Abgabe über Apotheken in der einen Region, über spezialisierte Fachgeschäfte in einer anderen), schöpfen wir das Innovations- und Erkenntnispotenzial voll aus. Vielfalt statt Einheitslösungen ermöglicht den notwendigen Vergleich, um herauszufinden, welche Regulierung beispielsweise den höchsten Jugendschutz oder die besten gesundheitlichen Ergebnisse liefert.4
Die unabhängige wissenschaftliche Begleitung stellt sicher, dass wir aus jedem Forschungsansatz lernen können. Wichtig ist, dass die Forschungsvorhaben regional und zeitlich befristet angelegt sind, engmaschig evaluiert und kontrolliert werden und die digitale Überwachung der Lieferkette sichergestellt ist. Selbstverständlich werden nur qualitätsgesicherte Cannabis-Produkte in diesen kontrollierten Forschungsprojekten abgegeben, was auch positive Effekte für den Gesundheitsschutz nach sich zieht: Durch kontrollierte THC-Gehalte, Warnhinweise, begleitende Aufklärung für Studienteilnehmende und qualitätsgeprüfte Ware, ganz im Gegensatz zu den auf dem illegalen Markt in häufigen Fällen verunreinigten Produkten, wie eine Analyse von Straßencannabis aus 30 deutschen Städten zeigt.5
Wirtschaftliche ChancenDie kontrollierte Abgabe von Cannabis im Rahmen von Forschungsprojekten bietet jedoch nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch handfeste ökonomische Vorteile. Schon jetzt konsumieren in Deutschland rund 4,5 Millionen Erwachsene6 mindestens einmal im Jahr Cannabis zu Genusszwecken und geben dafür jährlich etwa 4 Milliarden Euro7 aus – Geld, das derzeit größtenteils unversteuert in die Kassen der Akteure des illegalen Marktes fließt, die es zu bekämpfen gilt.
Eine regulierte Abgabe im Rahmen von Forschungsvorhaben würde zumindest einen Teil dieser Mittel in legale Bahnen lenken. Legale Abgabestellen könnten (Steuer-)Einnahmen generieren, von denen ein Teil direkt in Präventionsprogramme und Jugendschutz fließen kann. Zudem können neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Wissenschaft und Wirtschaft zur regionalen Wertschöpfung beitragen.
Forschungseinrichtungen und Kommunen sind startklarBereits mehrere deutsche Städte, darunter Frankfurt am Main8, Hannover9 und mehrere Berliner Bezirke10, aber auch ländlichere Kommunen, renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Expertinnen und Experten der Suchthilfe und innovative Unternehmen stehen in den Startlöchern und wollen Verantwortung übernehmen, um neue Lösungen zu erproben. Uns eint das Ziel, die bestehenden Risiken (bspw. durch den Konsum verunreinigter Produkte aus dem illegalen Markt)11 zu verringern, hilfesuchenden Menschen niedrigschwellige Unterstützung zu bieten, Konsumierende aufzuklären und die Verdrängung des illegalen Marktes sowie das wissenschaftliche Potenzial eines legalen Marktes zu erforschen.
Diese Innovationsbereitschaft gilt es zu nutzen. Deutschland hat die Chance, mit modellhaften Ansätzen neues Wissen zu generieren. Dieses Wissen wird auch international Beachtung finden – wir können eine Vorreiterrolle in Europa einnehmen, indem wir mutig, aber kontrolliert neue Wege gehen.
Appell
Sehr geehrte Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, in Artikel 5 unseres Grundgesetzes ist die Freiheit der Forschung verankert. Die geplanten Vorhaben stellen nichts anderes dar als die angewandte Forschung zur Drogenpolitik und den damit verbundenen Auswirkungen auf die innere Sicherheit, organisierte Kriminalität und den Jugend- und Gesundheitsschutz.
Wir appellieren an Sie, auch mit Blick auf das oben bereits genannte Sondierungspapier, die Bedeutung dieser Forschungsvorhaben anzuerkennen. Es geht hierbei nicht um ideologische Symbolpolitik, sondern um einen pragmatischen, wissensbasierten Ansatz, der sowohl ökonomische Vernunft als auch Gesundheit und Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger vereint.Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass die wissenschaftlich begleitete kommerzielle Abgabe von Konsumcannabis in ausgewählten Regionen zügig und unvoreingenommen umgesetzt werden kann. Lassen Sie zu, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Daten erheben, die Sie für fundierte politische Entscheidungen benötigen.
Wir – Expertinnen und Experten aus Politik und Recht, Wissenschaft und Medizin, Verbänden und Industrie – stehen bereit, Sie dabei mit unserem Know-how zu unterstützen.
Mit freundlichen Grüßen
die untenstehenden UnterzeichnendenMärz 2025
Liste der mehr als 30 Unterzeichnenden aus Politik und Recht, Wissenschaft und Medizin, Verbänden und Industrie:
- Arcaden Apotheke OHG
- Branchenverband Cannabiswirtschaft e. V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft Cannabis Anbauvereinigungen (BCAv)
- Cannabis Anbaugemeinschaft Hannover e.V.
- Cannabis Betriebsgenossenschaft Hannover e.G.i.G.
- Cannabis Socialclub Hannover e.V.
- Cansativa GmbH
- Canymed GmbH
- Cimander, Dr. med. Dipl.-Chem. Konrad F.
Suchtmediziner
Kompetenzzentrum für Cannabis-Medizin- Demecan GmbH
- Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V.
- Deutscher Hanfverband
- Dr. Cannabis Akademie
- Enua Pharma GmbH
- Four 20 Pharma GmbH
- Gottschling, Prof. Dr. med. Sven
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- Hämatologie und Onkologie
Universitätsklinikum des Saarlandes
Dr. Cannabis Akademie
Deutsche Akademie für Ganzheitliche Schmerztherapie e. V.- Haucap, Professor Dr. Justus
Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE)
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf- LEAP – Law Enforcement against Prohibition Deutschland e.V.
- Müller-Vahl, Prof. Dr. Kirsten R.
Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und
Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover- Neue Richtervereinigung – Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern,
Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V.- Niedersächsische Cannabis Anbaugemeinschaften NICA e.V.
- Niermann, Kai-Friedrich
Rechtsanwalt- Peschel, Dr. Thomas
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Patrida Diamorphinbehandlung Berlin- Sanity Group GmbH
- Schmidt-Semisch, Prof. Dr. Henning
Fachbereich 11: Human- und Gesundheitswissenschaften Institut für Public Health
und Pflegeforschung
Universität Bremen- Steinmetz, Dr. Fabian
Regulatorischer Toxikologe- Stöver, Prof. Dr. Heino
Sozialwissenschaftlicher Suchtforscher- TMG Media Group
- Verband der Cannabis Versorgenden Apotheken e. V.
- Vigia AG/Cannavigia
- Voitl, Elke
Dezernentin für Soziales und Gesundheit der Stadt Frankfurt am Main- Wurth, Georg
Sachverständiger
- Datenportal des Bundesbeauftragten. 2025. Cannabiskonsum in Deutschland:
https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de/cannabis ↩︎ - European Union Drugs Agency. 2024. Cannabis – die aktuelle Situation in Europa(Europäischer Drogenbericht 2024):
https://www.euda.europa.eu/publications/european-drug-report/2024/cannabis_de ↩︎ - Bundesamt für Gesundheit (BAG). 2025. Pilotversuche mit Cannabis: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-
leben/sucht-und-gesundheit/cannabis/pilotprojekte.html ↩︎ - Science Media Center. 07.05.2024. Mögliche Auswirkungen kommerzieller Cannabisshops:
https://www.sciencemediacenter.de/angebote/moegliche-auswirkungen-kommerzieller-cannabisshops-24067 ↩︎ - Avaay Medical. 2024. Studie untersucht Straßencannabis aus 30 deutschen Städten: https://avaay.de/studien/studie-
cannabis-verunreinigungen/ ↩︎ - Datenportal des Bundesbeauftragten. 2025. Cannabiskonsum in Deutschland:
https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de/cannabis ↩︎ - DICE. 16.11.2021. Fiskalische Auswirkungen einer Cannabis-Legalisierung in Deutschland. Ein Update:
https://www.dice.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Wirtschaftswissenschaftliche_Fakultaet/DICE/Bilder/Nachrichten_und_
Meldungen/Fiskalische_Effekte_Cannabislegalisierung_final.pdf ↩︎ - Stadt Frankfurt am Main. 2024. Info Cannabismodellprojekt: https://frankfurt.de/service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-
institutionen/drogenreferat/aktuell/cannabis-modellprojekt ↩︎ - Stadt Hannover. 30.10.2024. Stadt Hannover startet Modellprojekt zum Cannabisgebrauch:
https://www.hannover.de/Service/Presse-Medien/Landeshauptstadt-Hannover/Meldungsarchiv-f%C3%BCr-das-Jahr-
2024/Stadt-Hannover-startet-Modellprojekt-zum-Cannabisgebrauch ↩︎ - Berlin. Das offizielle Hauptstadtportal. 11.12.2024. Modellprojekt: Cannabis-Verkauf in zwei Bezirken:
https://www.berlin.de/aktuelles/9348000-958090-modellprojekt-cannabisverkauf-in-zwei-be.html ↩︎ - Avaay Medical. 2024.Studie untersucht Straßencannabis aus 30 deutschen Städten. Pestizide, Covid und menschliche
Fäkalien: https://avaay.de/studien/studie-cannabis-verunreinigungen/ ↩︎
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