Die gesetzliche Krankenkasse KKH veröffentlichte am 16.07.2025 eine Pressemitteilung mit dem wenig seriösen Titel “2024 deutlich mehr Cannabissüchtige: Legalisierung schuld?”. Eine genaue Betrachtung der präsentierten Daten offenbart jedoch einige Probleme bei dem vermuteten kausalen Zusammenhang.
In der betreffenden Pressemitteilung stellte die KKH Hochrechnungen ihrer eigenen Abrechnungszahlen dar, nach denen sich ein Anstieg der Diagnosen unter der Kennziffer ICD-10 F12 ablesen lasse. Hinter dem Kürzel ICD-10 verbirgt sich die aktuell international verwendete Klassifikation von Krankheiten. Die Kennziffer F12 fasst Diagnosen zum Komplex “Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide“ zusammen und ist in zehn weitere Einzeldiagnosen aufgefächert (F12.0 bis F12.9). Zu diesen gehören das Abhängigkeitssyndrom (F12.2) aber auch andere Aspekte wie akuter Rausch (F12.0), schädlicher Gebrauch (F12.1) oder psychotische Störung (F12.5).
Trotzdem hat man sich bei der KKH entschieden, auf diese Feinheiten zu verzichten und stattdessen “der einfacheren Lesbarkeit halber teils nur von Cannabissüchtigen” zu sprechen, obwohl die Details der Diagnosekriterien im Text Erwähnung finden. Dass der Begriff des “Süchtigen” durchaus negativ konnotiert ist und deshalb eigentlich kaum noch verwendet wird, war in diesem Zusammenhang offensichtlich von nachgeordneter Bedeutung. Von Bedeutung ist jedoch, dass die Verkürzung auf den Begriff “Cannabissüchtige” auch sachlich falsch ist und daher für eine gesetzliche Krankenkasse unangebracht erscheint, vor allem wenn es in der Präsentation von Kerndaten ihres Aufgabenfeldes erfolgt.
Die Zahlen der KKH im Kontext der bisherigen Entwicklung
Laut KKH haben hochgerechnet rund 250.500 Menschen eine Diagnose “Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide” im vertragsärztlichen Versorgungssystem erhalten. Dies stelle eine Steigerung von 14,5 Prozent im Vergleich zu 2023 dar und sei der insgesamt höchste Wert in den letzten 10 Jahren (absolut wie auch hinsichtlich der Steigerung). Untermauert wird dies mit einer Grafik zur Entwicklung der Diagnosen zu ICD-10 F12.
Eine weiterführende Erklärung des vermuteten kausalen Zusammenhangs dieser Entwicklung mit der Entkriminalisierung am 1.4.2024 bleibt die Krankenkasse allerdings schuldig. Mit Ausnahme eines Hinweises auf die kontroverse Diskussion um das Gesetz wird rein gar keine Interpretation der KKH zur Vermutung in der Überschrift der Pressemitteilung geboten. Es bleibt somit der Eindruck, dass es sich bei dem Titel um billigen Click-Bait handelt, der einzig zur Verbreitung der Pressemitteilung beitragen sollte.
Insbesondere die Verwendung des Begriffes der “Cannabissüchtigen” erscheint vor diesem Hintergrund noch absurder, da eine Konsumgebrauchsstörung eine Erkrankung ist, die sich über einen langen Zeitraum von oft mehreren Jahren entwickelt. Im Falle einer Kausalität zwischen den gesetzlichen Neuerung und dem vermehrten Auftreten von Konsumgebrauchsstörungen würden sich diese erst in einigen Jahren statistisch bemerkbar machen.
Ein direkter Effekt des Gesetzes wäre auf Grundlage der präsentierten Daten zudem schwierig nachweisbar, da die Diagnosezahlen nach ICD-10 F12 bereits seit 2009 deutlich gestiegen sind und z.B. der Anstieg von 2012 zu 2013 mit 18% deutlich stärker ausfiel, ohne dass es eine vergleichbare gesetzliche Änderung im Umgang mit Cannabis gab:

In ihrer Studie “Ambulante Versorgung cannabisbezogener Störungen in Deutschland (AmCaSD)” prüfen die Autoren Manthey, Schwarzkopf et al. verschiedene Hypothesen für den Anstieg zwischen 2009 und 2021 und kommen unter anderem zum Ergebnis, dass “die Zahl der gesetzlich Versicherten mit einer diagnostizierten Cannabisproblematik stärker zunimmt als der Cannabiskonsum” und dies “zunächst darauf hin[deute], dass Cannabis in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zunehmend thematisiert“ wird.
Eine steigende Thematisierung von Cannabis könne im besten Fall zur einer “Verringerung des so genannten ‚treatment gap‘, d. h. der Diskrepanz zwischen subjektivem oder objektivem Hilfebedarf und der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen” beitragen. Genaue Aussagen hierzu könne man jedoch anhand der reinen Diagnosezahlen nicht treffen, da sie “keine Informationen über die tatsächliche Inanspruchnahme bestimmter Leistungen, wie z.B. Psychotherapie” beinhalten und somit unklar bleibe, ob fernab der Diagnose auch eine langfristige Behandlung stattgefunden habe.
Dunkelfeldaufhellung als plausible Erklärung und weitere interessante Entwicklungen
Ein plausible Hypothese für die Diagnosezahlen für 2024 könnte somit sein, dass es mit dem Inkrafttreten des CanG am 1.4. zu einer weiteren Aufhellung des Dunkelfeldes gekommen ist und sich Betroffene aufgrund der weiteren Normalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Cannabis endlich ihrem behandelnden Arzt offenbart haben. Dazu können ernsthafte gesundheitliche Probleme im Umgang mit dem eigenen Cannabiskonsum gehören, aber auch die bloße Offenlegung, dass man selbst Cannabis konsumiert.
Insofern wird auch auf Seiten der Ärzte ein Umdenken stattfinden müssen. Nicht jeder Konsum von Cannabis ist therapiebedürftig, ist per se schädlicher Gebrauch oder verdeutlicht eine zugrunde liegende Konsumgebrauchsstörung. Ein Erwachsener, der Cannabis als Genussmittel nutzt, hat nicht automatisch ein gesundheitliches Problem und braucht eine Diagnose. Ebenso wie es beim Konsum von anderen Genussmitteln einen maßvollen unbedenklichen Konsum gibt, ist dies auch bei Cannabis für Erwachsene gegeben.
Interessant zu beobachten, wird zudem sein, wie sich der Zugang zu sauberem Cannabis mit bekanntem THC-Gehalt für Konsumenten zukünftig hinsichtlich der Entwicklung von Diagnosen (insbesondere F12.0 akuter Rausch) auswirkt. Cannabis vom Schwarzmarkt hat einen meist unbekannten THC-Gehalt und kann zudem mit synthetischen Cannabinoiden versetzt sein. Diese haben deutlich stärkere negative Nebenwirkungen (z.B. im akuten Rauch) und ein generell höheres Schadenspotential für Nutzende. Ein den Nutzern bekannter THC-Gehalt könnte hingegen dazu beitragen, Überdosierungen zu vermeiden, die im schlimmsten Fall auch eine ärztliche Behandlung erforderlich machen können.
Auch der Wegfall von Vermittlungen ins Suchthilfesystem aufgrund gerichtlicher Auflagen wird in den nächsten Jahren die Statistik beeinflussen. Es dürfte also einige Bewegung beim gesundheitspolitischen Thema Cannabis in den nächsten Jahren geben, die sich auch in den Zahlen widerspiegeln wird. Den Anstieg der Diagnosezahlen als Zunahme von “Cannabissüchtigen” aufgrund der erfolgten Entkriminalisierung darzustellen, offenbart jedoch eine absolut unsachliche Sichtweise, die für eine seriöse Institution wie eine gesetzliche Krankenkasse auch aufgrund der politischen Dimension der Aussage nicht geboten erscheint. Dieses Feld sollte man eher den Medien mit den vier Buchstaben überlassen.
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