Heute wurde der Alternative Drogen- und Suchtbericht 2020 veröffentlicht. Darin ist auch der hier dokumentierte Artikel von Prof. Dr. Helmut Pollähne, Hubert Wimber und DHV-Geschäftsführer Georg Wurth enthalten.
Seit die SPD-Fraktion im Februar 2020 ihr Positionspapier zu Cannabis verabschiedet hat, gibt es im Bundestag eine theoretische Mehrheit für die Entkriminalisierung von Cannabis. Am häufigsten wird die Herabstufung des Besitzes geringer Mengen zur Ordnungswidrigkeit diskutiert. Doch wäre das wirklich ein Fortschritt? Dieser Artikel diskutiert verschiedene Szenarien einer Liberalisierung der Rechtslage.
Gesellschaftliche und politische Mehrheit will Strafverfolgung von Cannabiskonsumierenden beenden
Meinungsumfragen zeigen, dass die derzeitige repressive Cannabispolitik in Deutschland keinen Rückhalt in der Bevölkerung mehr hat. 59 Prozent der Befragten waren 2018 laut Infratest Dimap der Meinung, dass „der Besitz geringer Cannabis-Mengen zum Eigenverbrauch nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden sollte”. (Infratest Dimap 2018)
Im Bundestag sind nur noch CDU/CSU und AfD dafür, weiterhin Strafverfahren für jeden noch so kleinen Krümel Cannabis einzuleiten. Alle anderen Fraktionen, die Mehrheit also, würde Cannabis grundsätzlich legalisieren, also den Markt für Erwachsene regulieren und staatlich kontrollierte Fachgeschäfte oder Anbauclubs einführen. Grüne, Linke und FDP haben teilweise seit vielen Jahren entsprechende Positionen verabschiedet.
Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag ist der jüngste Spross im Legalize-Boot. Am 11.02.2020 verabschiedeten die Sozialdemokraten ein Positionspapier mit dem Titel „Cannabis: Neue Wege gehen!“ (SPD-Bundestagsfraktion 2020). Darin bekennt sich die Fraktion zumindest perspektivisch zur Legalisierung von Cannabis: „Wir sehen in der regulierten Cannabis-Abgabe an Erwachsene in Deutschland eine gute Chance für eine erfolgreiche Cannabis-Politik”. Allerdings schlagen die Sozialdemokraten als Zwischenschritt kommunale Modellprojekte vor, um Erkenntnisse für optimale Regulierungen zu sammeln. Bei der Entkriminalisierung der Konsument*innen möchte aber auch die SPD-Fraktion sofort handeln:
„Um kurzfristig bereits Verbesserungen zu erreichen, setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion dafür ein, den Besitz von kleinen Mengen von Cannabis nicht weiter strafrechtlich zu verfolgen, sondern zukünftig ordnungsrechtlich zu ahnden.”
Gäbe es eine freie Abstimmung im Bundestag, könnte die Mehrheit also mit sofortiger Wirkung das Ende der Strafverfolgung von Cannabiskonsumenten beschließen. Über den Koalitionszwang kann die Unionsfraktion die SPD allerdings noch daran hindern, mit der Opposition abzustimmen, und so ihre repressive Cannabispolitik weiter durchsetzen. Doch auch in der Union mehren sich die Stimmen für eine Reform der Cannabispolitik. Einzelne CDU-Bundestagsabgeordnete sprechen sich für Legalisierung oder kommunale Modellprojekte aus und auch die Entkriminalisierung der Konsumenten ist Thema.
Auch die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig befürwortete nach einem Besuch bei der DPolG Bayern die Umstufung des Besitzes geringer Mengen Cannabis zur Ordnungswidrigkeit (DPolG-TV 2020). Allerdings ging es hier weniger um die Intention, die Konsumierenden zu entkriminalisieren, sondern im Gegenteil pflichtete Ludwig der Forderung der Polizeigewerkschaft bei, dass diese über Bußgelder endlich wieder eine staatliche Sanktion erfahren sollten. Die DPolG Bayern hatte bemängelt, dass Strafverfahren, die eingestellt werden, keine Belastung für die Täter seien. Schnell verhängte Bußgelder wegen einer Ordnungswidrigkeit könnten das ändern.
In seiner Sitzung vom 20.09.2019 hat sich der Bundesvorstand des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) mit der Drogenpolitik befasst. Im BDK sind ca. 15.000 Angehörige der Polizei (vorwiegend Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamte) organisiert. Der in dieser Sitzung verabschiedete Vorstandsbeschluss befürwortet eine Überführung der konsumnahen Delikte vom Strafrecht in das Ordnungswidrigkeitenrecht, begleitet von Interventions- und Hilfsmaßnahmen. Er regt außerdem eine Überprüfung an, ob das portugiesische Modell mit einer Vorladung von Konsumierenden vor eine Kommission, die im Wesentlichen eine beratende Funktion hat, auf Deutschland übertragen werden kann.
Sind Cannabiskonsumierende bereits entkriminalisiert?
Viele Menschen in Deutschland glauben, der Besitz geringer Mengen Cannabis sei in Deutschland legal. Politiker behaupten immer wieder, Strafverfahren wegen solcher Delikte würden regelmäßig eingestellt, so dass es gar keine Strafverfolgung von Cannabiskonsument*innen gebe.
Tatsächlich ist 1992 der § 31a in das Betäubungsmittelgesetz eingefügt worden. Danach kann die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und lediglich eine geringe Menge zum Eigenbedarf “im Spiel” ist. Vor diesem rechtlichen Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht 1994 im sogenannten Cannabis-Beschluss zwar festgestellt, dass die Strafbarkeitsbestimmungen des BtMG auch bezogen auf Cannabis verfassungskonform sind, aber eben auch, dass der Besitz geringer Mengen Cannabis zum gelegentlichen Eigenverbrauch aus Gründen des Übermaßverbots im Regelfall nicht bestraft werden soll.
Auf diesen Beschluss geht die derzeit praktizierte „Entkriminalisierung” von Cannabiskonsument*innen nach §31a BtMG immer noch zurück. Bei der Umsetzung wurde den Bundesländern viel Spielraum gelassen, was zu einem Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen führte. Die Definition der geringen Menge schwankt zwischen 6 und 15 Gramm, teilweise werden die Verfahren immer eingestellt, teilweise nur bei “Ersttätern”, teilweise nicht bei Jugendlichen, grundsätzlich nicht bei Gefangenen, nicht bei Bewährungsauflagen etc. Ein Vergleich der polizeilichen Ermittlungsverfahren mit den Verurteiltenzahlen nach der Strafverfolgungsstatistik zeigt, dass die überwiegende Mehrzahl der polizeilichen Ermittlungsverfahren nicht mit einer justiziellen Verurteilung endet. Trotzdem werden bei Weitem nicht alle Strafverfahren eingestellt und die Einstellungsquote ist von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich.
Es kommt in allen Bundesländern immer wieder zu Gerichtsverfahren und erheblichen Strafen wegen sehr geringer Cannabismengen. Hier einige Beispiele aus Bayern, wo das besonders häufig vorkommt:
Im November 2019 wurde ein 21jähriger in Wolfratshausen wegen 0,3 Gramm Marijuana zu 32 Sozialstunden verurteilt. (Merkur 2019)
Im April 2019 wurde in Lindau ein 60jähriger zu 90 Prozent schwerbehinderter Epilepsiepatient zu 450 Euro Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Er war am Bahnhof mit 0,63 Gramm Haschisch aufgegriffen worden, woraufhin eine Hausdurchsuchung ohne weitere Ergebnisse durchgeführt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren wegen zweier banaler Verkehrsvergehen in den Akten des Angeklagten nicht eingestellt. (Schwäbische 2020)
In Amberg in der Oberpfalz wurde im November 2017 wegen 0,9 Gramm Marijuana gegen einen 20jährigen vor Gericht verhandelt, weil er früher als Drogenhändler aufgefallen war. Seine noch offene Bewährungsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten wurde wegen der 0,9 Gramm auf zwei Jahre erhöht. (onetz.de 2017)
Und auch eingestellte Strafverfahren können erhebliche Konsequenzen und Eingriffe in Bürgerrechte mit sich bringen. Es kommt zu Überwachungsmaßnahmen und Hausdurchsuchungen. Die Personen werden unter Umständen trotz Einstellung des Verfahrens über Jahre als BTM-Straftäter in polizeilichen Datensammlungen gespeichert und müssen mit Problemen bei der nächsten Verkehrskontrolle rechnen. Ganz grundsätzlich fühlt sich ein ansonsten unbescholtener Bürger nicht entkriminalisiert, wenn gegen ihn ein Strafverfahren geführt wird wegen einer Tat, die er nicht moralisch verwerflich findet, auch wenn das Verfahren am Ende eingestellt wird.
Strafverfahren werden wegen jedes noch so kleinen Krümels immer eröffnet. Die Zahl dieser Verfahren erreicht jedes Jahr neue Rekorde. 2019 gab es in Deutschland über 186.000 Strafverfahren wegen „Allgemeiner BtMG-Verstöße mit Cannabis” ohne Handel, Einfuhr großer Mengen etc, also konsumbezogene Cannabisdelikte. Das waren fast 83 Prozent aller Strafverfahren wegen Cannabis. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen und Politiker diese Praxis beenden wollen, auch um die Polizei von diesen Aufgaben zu entlasten.
Welche juristischen Möglichkeiten gibt es, Cannabiskonsument*innen zu entkriminalisieren?
Wenn eine vollständige Regulierung des Cannabis-Marktes mit Fachgeschäften für Erwachsene politisch noch nicht durchsetzbar ist, die Konsumenten aber entkriminalisiert werden sollen, dann gibt es dafür drei verschiedene Ansätze:
1. Der Besitz geringer Mengen bleibt strafbar, wird aber faktisch nicht bestraft.
Bei diesem Ansatz bleibt der Besitz von Cannabis auch in kleinsten Mengen eine Straftat, das Verfahren kann aber bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 a BtMG eingestellt werden. Allerdings sind hier die Details entscheidend. „Kann” ein Strafverfahren im Ermessen der Staatsanwälte eingestellt werden, „soll” es regelmäßig eingestellt werden oder „muss” es in jedem Fall eingestellt werden? Zu dieser Frage gibt es eine unterschiedliche Verwaltungspraxis in den jeweiligen Bundesländern, so dass die Einstellungspraxis bei Wiederholungstätern, Jugendlichen, Menschen auf Bewährung und solchen, die andere Vergehen in den Akten haben, erheblich voneinander abweicht. Teilweise kommt es am Ende doch zu erheblichen Strafen für geringe Mengen. In jedem Fall bleibt es dabei, dass weit über 100.000 Menschen pro Jahr in Deutschland den Stempel „Straftäter” aufgedrückt bekommen und Polizei und Staatsanwaltschaft diese Verfahren abarbeiten müssen.
Wer in diesem Rahmen eine weitergehende Entkriminalisierung durchführen will, kann also im BtMG festlegen, dass solche Strafverfahren wegen konsumbezogener Delikte immer eingestellt werden „müssen”. Da das BVerfG 1994 auch eingefordert hat, dass die Einstellungspraxis bundesweit einheitlich erfolgen sollte, könnte dann auch die geringe Menge direkt im BtMG definiert werden.
Im Rahmen dieser Systematik ist damit nur ein kleiner Schritt nach vorn möglich. Es gäbe weniger tatsächliche Strafen, aber die Stigmatisierung als Straftäter inklusive Eintrag im Polizeicomputer und der Aufwand bei den Strafverfolgungsbehörden blieben bestehen.
2. Der Besitz geringer Mengen ist keine Straftat mehr, sondern wird als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld geahndet.
Das wäre tatsächlich ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Cannabiskonsument*innen würden nicht mehr als Straftäter stigmatisiert. Ähnlich wie beim Falschparken müssten sie ein Bußgeld bezahlen und hätten mit keinerlei weiteren Konsequenzen zu rechnen.
Hierzu einige grundsätzliche Bemerkungen zum Ordnungswidrigkeitenrecht. Eine Ordnungswidrigkeit ist in unserem Rechtssystem eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, für die das Gesetz eine Ahndung durch eine Geldbuße vorsieht (§ 1 Abs.1 OWiG). Der Unrechtsgehalt einer Ordnungswidrigkeit ist zwar geringer als bei einer Straftat, aber es bleibt ein Fehlverhalten, das der Gesetzgeber sanktioniert. Es gilt anders als im Strafrecht das Opportunitätsprinzip, das den Bußgeldbehörden auch die Möglichkeit einräumt, von der Verfolgung abzusehen, wenn die Zuwiderhandlung unbedeutend ist und kein öffentliches Interesse an der Ahndung besteht. Bußgeldbehörden sind die nach Landesrecht festgelegten Verwaltungsbehörden, im Regelfall die kommunalen Ordnungsbehörden der Kreise und kreisfreien Städte. In deren Haushalt fließen dann auch die Bußgelder. Die Polizei ist nur ausnahmsweise (z.B. bei Verkehrsordnungswidrigkeiten) mit im Spiel. Die Ermessensspielräume der Bußgeldbehörden sind in vielen Fällen durch Verwaltungsvorschriften stark eingeschränkt. Eine Regelung wie in Portugal sieht das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht bisher nicht vor.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, und so scheint es ja auch die Intention der Bundesdrogenbeauftragten zu sein, dass auf der Grundlage einer Ordnungswidrigkeit annähernd 100 Prozent der Betroffenen tatsächlich ein Bußgeld bezahlen müssten, während aktuell die Mehrzahl der entsprechenden Strafverfahren ohne staatliche Sanktion eingestellt wird. Deshalb profitieren nicht alle Konsumenten gleichermaßen von dieser Änderung.
Eine große Erleichterung wäre das für Konsumierende, die derzeit wegen eines Cannabis-Strafverfahrens um ihren Arbeitsplatz oder ihr soziales Renommee fürchten müssen und sich die Zahlung des Bußgeldes ohne Weiteres leisten können. Diejenigen, die durch ein Cannabis-Strafverfahren keinen Job zu verlieren und wenig Geld haben, werden durch die OWi-Lösung stärker sanktioniert als vorher. Ihnen droht sogar Erzwingungshaft, wenn sie das Bußgeld nicht zahlen können. Die Wirkung dieser Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit bringt also ein soziales Ungleichgewicht mit sich.
Außerdem dürfte die Herabstufung kleiner Cannabisdelikte zur OWi regionale Unterschiede weiter verstärken, anstatt sie wie vom BVerfG gefordert anzugleichen. Denn ein wichtiger Aspekt dieser Umstufung wäre, dass das Legalitätsprinzip nicht mehr greifen würde. Die dann zuständige Bußgeldbehörde muss nicht mehr wie die Polizei bei Straftaten in jedem Fall einschreiten, sondern kann bei Ordnungswidrigkeiten auch mal wegschauen. Das könnte in liberalen Bundesländern dazu führen, dass gegen Cannabiskonsumierende fast gar nicht mehr vorgegangen wird. In repressiveren Bundesländern könnte ein regelmäßig anfallendes Bußgeld die Motivation der Behörden sogar noch steigern, weil endlich weniger für den Papierkorb gearbeitet wird und in jedem Fall eine staatliche Sanktion erfolgt. Nur deshalb spricht sich zum Beispiel die Bayerische Polizeigewerkschaft für die OWi-Lösung bei „Ersttätern” aus.
Wie bei den Details der Einstellungsregeln für Strafverfahren käme es auch bei der OWi-Lösung auf das Kleingedruckte an. Wie hoch wäre die geringe Menge? Wie hoch wäre das Bußgeld? Ob sich ein Konsument durch diese Maßnahme entkriminalisiert fühlt, kommt sicher auch darauf an, ob er 50 oder 500 Euro zahlen muss.
Viele Städte und Bundesstaaten in den USA gehen diesen Weg zur Zeit recht konsequent. Ein aktuelles Beispiel: Im April 2020 hat der US-Staat Virginia beschlossen, den Besitz von bis zu einer Unze Cannabis (28,35 g) nur noch ausschließlich mit einem Bußgeld von 25 Dollar zu ahnden (NORML 2020). Zuvor drohten auf dieses Vergehen bis zu 30 Tage Gefängnis und der Entzug des Führerscheins.
Eine offene Frage, die sich bei diesem Modell noch stellt: Wer ist eigentlich dafür zuständig, Verdächtige zu durchsuchen, Ordnungswidrigkeiten festzustellen und die Bußgelder einzutreiben? Weiterhin die Polizei? Städtische Beschäftigte wie bei der Parkraumüberwachung? Und in welche Kasse fließen die Einnahmen aus den Bußgeldern?
Auf all diese Fragen haben die Befürworter*innen einer Bußgeldregelung bisher keine Antworten gegeben.
3. Der Besitz geringer Mengen wird in keiner Weise sanktioniert.
Das BtMG könnte so geändert werden, dass der Besitz einer geringen Menge Cannabis zum Eigenverbrauch ersatzlos aus der Strafbarkeit entlassen wird. Es wäre dann schlicht legal, ein paar Gramm Hanfblüten zu besitzen. Das wäre die konsequenteste Variante der Entkriminalisierung. In diesem Fall würde das Cannabis auch nicht mehr beschlagnahmt. Polizei und Justiz wären auf einen Schlag von über 100.000 Strafverfahren pro Jahr entlastet.
Nach dem im November 2016 in Kraft getretenen “Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz” (NpSG) ist der Erwerb und Besitz der dort geregelten Substanzen (u.a. synthetische Cannabinoide) zwar verboten. Diese Handlungen werden aber im § 5 NpSG weder unter Strafe gestellt noch als Ordnungswidrigkeiten verfolgt. Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund, bei Erwerb und Besitz von Cannabis hinter die dort getroffene Regelung zurück zu gehen.
Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Motivation der Entscheider. Wollen sie eine Lockerung, weil der öffentliche Druck zu groß wird? Oder haben sie verstanden, dass der Konsum von Cannabis ebenso wie der von Alkohol nicht per se moralisch verwerflich oder eine Gefahr für andere ist? Im letzteren Fall ergibt „ein bisschen Strafe” im Grunde keinen Sinn. Es käme ja auch niemand auf die Idee, Menschen, die mit einer Bierflasche erwischt werden, mit einem Bußgeld zu belegen. Aus Sicht des Staates gibt es keinen Grund, diese beiden im Wesentlichen gleichen Tatbestände ungleich zu behandeln.
Was ist eine „geringe Menge zum Eigenverbrauch”?
In allen drei Varianten der Entkriminalisierung stellt sich die Frage, bei welchem Wert die Menge festgelegt wird, bis zu der von Eigenkonsum ausgegangen werden kann. Hier offenbart sich, dass im Grunde bei jeder Variante, die eine Obergrenze festsetzt, immer noch Konsumenten staatlicher Verfolgung ausgesetzt sein werden. Es gibt viele einfache Konsumenten, die erheblich größere Mengen Cannabis besitzen als die aktuell diskutierten Werte von 6 bis 30 Gramm. Einige bauen selbst Cannabis an, um Kontakte mit dem Schwarzmarkt zu vermeiden. Sie haben nach der Ernte natürlich einen größeren Vorrat. Andere haben nur unregelmäßig die Möglichkeit zum Einkauf oder wollen zu häufige Kontakte zum Schwarzmarkt vermeiden. Oder sie fahren über die Grenze in die Niederlande und decken sich dort mit einem größeren Vorrat für mehrere Monate ein. Es gibt Menschen, die 100 Gramm und welche, die 1.000 Gramm besitzen, ohne Cannabis zu verkaufen.
Die einzige Möglichkeit, alle Konsumenten zu entkriminalisieren, wäre der Verzicht auf eine konkrete Obergrenze, solange kein Handel nachgewiesen werden kann, oder eine recht hohe Grenze. Die Vorstellung hinter den aktuellen Regelungen, dass jeder Besitz oberhalb von 6 oder 15 Gramm auf potentiellen Handel hindeutet, ist jedenfalls realitätsfremd. Das sollte den Entscheidern bewusst sein, auch wenn sich die Festlegung einer Obergrenze zur Zeit vermutlich nicht wird vermeiden lassen. In den meisten Verfahren geht es aber um den Besitz in der Öffentlichkeit, nicht um die zu Hause gelagerte Erntemenge. Insofern wäre eine tatsächlich legale Besitzmenge von 10 Gramm in der Öffentlichkeit schon ein riesiger Fortschritt.
Fazit
Die massenhafte Strafverfolgung von Cannabiskonsument*innen muss so schnell wie möglich beendet werden. Sie ist unverhältnismäßig, teuer und schädlich.
Die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit wäre ein Schritt in die richtige Richtung, hätte aber auch Nachteile und wäre für manche Konsument*innen sogar eine Verschärfung der Situation.
Die Autoren plädieren dafür, Frieden mit Cannabiskonsumierenden zu schließen und anzuerkennen, dass ihr Verhalten nicht verwerflicher ist als der Konsum von Alkohol. Der Besitz geringer Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch sollte legal sein und keinerlei staatlicher Sanktion unterliegen.
Abschließend noch Folgendes. Zu Beginn dieses Jahres fand unter den Mitgliedern des Schildower Kreises eine durchaus kontroverse Online-Diskussion zur Sinnhaftigkeit einer Bußgeldregelung für Konsumierende statt. Zum Schluss der Debatte hat Cornelius Nestler, Lehrstuhlinhaber für Strafrecht an der Universität Köln, dazu geschrieben: „Wenn die Bundesregierung an dem Cannabis-Verbot weiter festhält, obwohl dieses Verbot nur Schaden anrichtet, aber keinen Nutzen erbringt, dann soll sie die Konsumenten wenigstens richtig entkriminalisieren, wie sie es schon bei den synthetischen Cannabinoiden im Rahmen des NSPG gemacht hat. So sind die synthetischen Cannabinoide zwar verboten, aber der Besitz ist für die Konsumenten nicht strafbewehrt. Genauso ist der Besitz geringer Mengen von Cannabis nicht nur nicht strafwürdig, sondern er verdient auch keinerlei andere Sanktionen, wie sie die Einstufung als Ordnungswidrigkeit herbeiführen würde.”
Dem ist aus unserer Sicht nichts hinzuzufügen.
Quellen:
infratest dimap, Oktober 2018: Legalisierung von Cannabis 2018
https://hanfverband.de/sites/default/files/181022_hanfverband_graf.pdf
Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, 11.02.2020: Cannabis: Neue Wege gehen!
https://www.spdfraktion.de/system/files/documents/positionspapier-cannabis-neue-wege-gehen-20200211.pdf
DPolG-TV, 21.01.2020: Drogenbeauftragte der Bundesregierung zu Besuch bei der DPolG Bayern –
https://www.youtube.com/watch?v=Hu6eAhtD_Mg
Merkur, 11.11.2019: Jugendgericht – Bichler verurteilt: Sozialdienst wegen 0,3 Gramm Marihuana
https://www.merkur.de/lokales/bad-toelz/bichl-ort28398/bichler-verurteilt-sozialdienst-wegen-0-3-gramm-marihuana-13211165.html
Schwäbische, 05.04.2020: Mit 0,63 Gramm Haschisch aufgegriffen und verurteilt
https://www.schwaebische.de/landkreis/bodenseekreis/friedrichshafen_artikel,-mit-063-gramm-haschisch-aufgegriffen-und-verurteilt-_arid,11033917.html
onetz.de, 24.11.2017: Amberg in der Oberpfalz/ Wegen 0,9 Gramm Marihuana – Haarscharf am Knast vorbei
https://www.onetz.de/amberg-in-der-oberpfalz/vermischtes/wegen-09-gramm-marihuana-haarscharf-am-knast-vorbei-d1796945.html
NORML, 12.04.2020: Virginia: Governor Approves Bills to Decriminalize Marijuana and Legalize Medical Cannabis
https://blog.norml.org/2020/04/12/virginia-governor-approves-bills-to-decriminalize-marijuana-and-legalize-medical-cannabis/
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